Über Zeigefinger

Dieses Interview erfolgte Ende 2020 im Rahmen einer regionalen Veranstaltung mit einem freien Mitarbeiter eines (mittlerweile eingegangenen) branchenfremden Onlinemagazins. Die auszugsweise Veröffentlichung wurde an wenigen gekennzeichneten Stellen redaktionell ergänzt und, insofern sinnvoll, lektoriert. Besonderer Dank gilt den Verantwortlichen für die problemfreie ‚Entkettung‘ des Beitrags, also der lizenzfreien Freigabe der gestellten Fragen.

:: du hast 2020 den ‚definitiven gÖrage.net motorrad-workshop‘ geschrieben, ein handbuch zur pflege und wartung von motorrädern. wie kam es dazu?

Real schrieb ich das Buch zwischen 2018 und 2020. Das heißt, genaugenommen habe ich bis dato (heute: Februar ’21, Aufbereitung des Interviews, die Red.) nicht aufgehört. Eine naturgegebene Folge der Tatsache, dass das Buch bislang keinem Verlag vorgelegt wurde oder auf eigene Verantwortung in den Druck gegangen ist. Dadurch finden immer wieder neue Abschnitte ihren Weg hinein, bzw. fliegen alte raus oder werden korrigiert bzw. präzisiert.

:: und wie kam es dazu?

Der Grund war simpel. Zu der Zeit, als ich in die Motorradszene einstieg, existierten keine expliziten Schrauber-Einsteigerbücher; und meines Wissens gibt es bis heute keine. Klar kannst du dich durchs Internet wühlen, aber für jede Frage erneut etliche Foren, Blogs, Kommerzanbieter mit Infotafeln und Onlinemagazinen aufzurufen, ist zeitaufwändig, manchmal frustrierend und auch aus anderen Gründen nicht immer erfreulich.

:: meiner einschätzung nach gibt es etliche werke, die sich genau darum kümmern: ein motorrad zu warten und zu reparieren. dass es keine gibt oder gab, stimmt im Grunde nicht.

Gut, erwischt, ich will ja schließlich ein Buch promoten, das es überhaupt noch nicht zu kaufen gibt. Aber im Ernst, natürlich existiert das eine oder andere Schrauberbuch. In erster Linie handelt es sich bei dem vorhandenen Material jedoch um zielgerichtete Reparaturhandbücher für bestimmte Modelle oder zumindest klar abgesteckte Themenbereiche (wie Oldtimer, die Red.), die sich nicht vorrangig an Einsteiger richten. Außerdem behandeln diese Bücher über viele Seiten an Semiprofis ausgerichtete Texte, deren gut ausgerüstete Werkstätten Overkill-Aktionen wie Motordemontagen erlauben. Mit ihnen will der Workshop nicht konkurrieren. Im Gegenteil, zumindest die modellspezifischen Reparatur- oder Werkstatthandbücher werden als Voraussetzung empfohlen, ohne die man oder frau gar nicht erst versuchen sollten, am eigenen Bike herumzuschrauben. Der gÖrage-Workshop ist weniger als das und gleichzeitig mehr. Er bringt dich auf den Weg, quasi ab Stunde null, wenn der Wunsch nach einem Motorrad sich zu artikulieren beginnt, man/frau aber nicht richtig weiß, was auf sie oder ihm zukommt. Er liefert die Grundlagen, seinen Platz zu finden und sich einzurichten, und behandelt all das, was sonst zu kurz kommt. Er ist praktisch vorangestellt, der unbekannte, lange verschollene erste Teil der gerade angeschnittenen Vorläufer. Hhm, oder der erste Teil von ‚gÖrage.nets Workshop-Reihe für Biker‘ …

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:: was wäre dann teil 2?

Der Weg in die Customszene, Schrauberin de Luxe, sozusagen. Ein Buch mit eigenständiger Zielrichtung für eine kleinere Gruppe Biker und welches sich dann tatsächlich als Konkurrenzprodukt zu den bereits veröffentlichten ähnlichen Werken erweisen sollte. Zumindest zeigen die in Teilen schon vorbereiteten Texte und Pläne in diese Richtung. Aber das ist realistisch gesehen sowieso Zukunftsmusik und aktuell nicht von Interesse …

:: du erwähntest und empfahlst die üblichen, speziell für bestimmte motorradmodelle geschriebenen reparatur-handbücher. warum?

Die Antwort liegt auf der Hand: Es existieren unglaublich viele verschiedene Motorradmodelle und alle sind anders gebaut, aus anderen Komponenten zusammengesetzt, mit anderer technischer Ausstattung versehen. Das kann ein Buch alleine nicht stemmen. Und dann benötigst du zum vernünftigen Arbeiten unabdingbare Daten wie modellspezifische Inspektionspläne, Drehmomentangaben, Herstellervorgaben … Die Liste ist lang.

:: warum dann dein buch auch noch kaufen?

Weil es alles abdeckt, was du alleine auf die Beine stellen kannst, ohne einen Lehrgang für deine Reparaturanleitung buchen zu müssen. Und mehr, beispielsweise wie du dein Bike für deine Körpermaße optimierst, wäscht, pflegst, inspizierst, wartest, einmottest und, ja, reparierst. Alles gebündelt an einem Platz und alles Dinge, die vom ‚Motorrad-Mainstream‘ eher nebenbei abgehandelt werden. Viele gehen halt davon aus, das wird der Besitzer schon wissen. Was aber nicht der Fall ist, weil Neubiker und erstmalig Bike-Interessierte kaum Gelegenheit erhalten, sich aufzuklären, und entsprechend wenig bis keine Ahnung von grundlegenden Dingen haben. Beispielsweise, dass sie ihre Kette besser nicht bei laufendem Hinterrad reinigen sollten oder einen alten Bock nicht mal so nebenbei von Halogen auf LED aufrüsten können. Der gÖrage-Workshop deckt unter anderem diese Sachen ab und hilft dabei, Lehrgeld zu sparen sowie den einen oder anderen Finger zu retten. Als Anschaffung witzlos ist er demgegenüber für alte Füchse und Profis, denen wenig Neues geboten wird. Und fein raus sind sowieso jene, die ihr Motorrad komplett von einer Werkstatt warten und reparieren lassen und selbst fürs Waschen und Pflegen jemanden gefunden haben. Keanu Reeves macht ja vor, wie das geht. Beide Gruppen brauchen das Buch natürlich nicht.

:: was meinst du, warum es so ist, dass viele für neubiker wichtige themen nicht oder nur wenig zielgruppengerecht aufbereitet werden?

Ich kann da nur spekulieren. So wie ich es sehe, verebbte die Begeisterung für Motorräder als Lifestyle hierzulande relativ schnell nach einem kurzen Höhenflug im Gefolge der 68er-Bewegung (vorher waren Motorräder eher Autoersatz). Ich denke da an Einflüsse wie ‚Easy Rider‘ und der rebellischen Attitüde insgesamt, die der Szene in jener Zeit anhaftete, aber mit den Jahren verschwand oder in der Rockerszene wie den aus den USA importierten Hells Angels versickerte. Danach kam nicht mehr viel und der Markt brach ein, weil schlicht der Nachwuchs fehlte.

Die Verkaufszahlen zogen erst wieder an, als die ehemals fahrende, jetzt von der Midlifecrisis gebeutelte Generation ihre Jugend wiederentdeckte, nur halt mit ‚vernünftigem‘ und ‚gereiften‘ Anstrich. Da sie gleichzeitig mitten im Leben stand und über viel Kaufkraft verfügte, konzentrierte sich im Gefolge das Motorradgeschäft samt Szenemedien zusehends auf diese Käufergruppe, die sich seitdem zwar nach oben (Ü-70) wieder auflöst, aber von unten (Ü-50) stetig mit neuen, ebenfalls vorm Alter erschreckten Nachfolgern aufgefüllt wird. Meine Theorie: Um die erfahrenen Altbiker nicht ewiglich mit Kettenschmiertipps zu langweilen, die sie sowieso besser wissen, vernachlässigte die Fachpresse diese Themen und versuchte, sich die neuen alten Käuferschichten mit Themen aus der Fahrwerks-Ingenieurskunst und Produkttests zu erhalten.

Die junge Generation vergaß man darüber und verlernte, sie anzusprechen. Es setzte eine scheinbare Überalterung der Szene ein, der dasselbe Schicksal ereilte, wie der Klimakrise: Sie wurde und wird bis heute landläufig beklagt, verfestigt sich aber ungehindert, weil nicht wirklich etwas dagegen unternommen wird. Für die Motorradszene bedeutet es, dass der Nachwuchs weiter links liegen bleibt; dort ist halt nicht so viel Geld zu holen. Klar nimmt ‚man‘ den U-18-Markt mit, aber eher so als begleitender Zeitvertreib für diejenigen, die die Lücke bis zum Autoführerschein überbrücken wollen. Bikern wird auf diese Weise keine Heimat geboten, und so fühlen sich Jüngere zu Recht nicht von der Motorradszene der Älteren angesprochen.

Was im Übrigen nicht nur deshalb schade ist, weil die Jüngeren nicht mehr ungehindert vom Wissen der Älteren profitieren können, sondern ebenso, weil die Älteren davor bewahrt werden, mit der ideologischen Freigängigkeit der Jüngeren konfrontiert zu werden. Motorradfahren hat für mich persönlich viel mit Freiheit zu tun und das Schrauben an den Dingern mit Kreativität. Beide Bereiche benötigen eine gewisse rebellische Energie, die Jüngere von Natur aus mitbringen und die die Älteren nicht selten mit den Jahren verlieren – aber von den Jüngeren wieder erlernen könnten. Seine rebellische Seite kurz vor der Heimunterbringung für sich wiederzuentdecken und mit einer BMW zu demonstrieren, ist wahrlich nicht dasselbe wie in einer provisorischen Garage sein individuelles Bike zu gestalten. Immerhin, es ist ein Anfang, 1 von 2 sozusagen.

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:: ist es nicht deine generation? die alte?

Das ändert nichts. Vielleicht hast du recht mit dem Unterton in deiner Frage und die Ausführung war zu plakativ. Aber überzogen oder nicht, es ist die Realität, wie ich sie interpretiere, und sie gehört zu den Gründen, warum das Buch in Angriff genommen wurde.

:: vielleicht auch, um damit geld zu verdienen?

Ja, genau. Deshalb verprelle ich die Zielgruppe mit dem starken finanziellen Polster und wende mich an eine, die vielleicht gerne wahrgenommen werden würde, aber wenig Geld besitzt. Macht Sinn. Aber im Ernst: Ich wäre glücklich, wenn die Entlohnung für meine Arbeit eines Tages stimmen wird, unter anderem, weil Essen und Miete nicht umsonst sind, aber mit immensen Einkünften rechne ich nicht. In meinen Wunschträumen, ja, aber in der wirklichen Welt ist eine Zielgruppe, die erst gebaut werden muss, kein besonderer Garant für Reichtümer.

:: zurück zum buch. was ist das besondere daran?

Die Fülle, aktuell 600 Seiten [mittlerweile durch Seitenumbau und Schriftverkleinerung auf 360 Seiten komprimiert, der Autor] , und die Themenbereiche, die die komplette Basis abarbeiten, die frau und man benötigt, um mit ihren Bikes vernünftig umzugehen. Auch der Schreibstil, der authentisch und wenig gefiltert rüberkommt, weil ich mich bei einer nicht vorhandenen Zielgruppe nicht an Rahmenbedingungen halten muss. Wie mehrfach angedeutet, das Buch wurde im Hinblick auf einen frisch ins Metier gestoßenen Biker geschaffen, der/die es im Idealfall abends anliest, sich mit seinem/ihrem neuen Hobby vertraut macht und es danach je nach Thema zu Rate zieht. Wo es nicht hingehört, ist das Buchregal.

:: hast du themenbeispiele?

Ach herrje, warte. Das bringe ich so ad hoc nicht aus dem Kopf auf die Reihe. Gebrauchtkauf auf jeden Fall, Werkstatt und Werkzeug, Pflege, Ergonomie (und damit zusammenhängend der Umbau eines Lenkers), Wartung, Arbeiten zum Saisonabschluss und -beginn, ein fettes Kapitel über Fahrwerksgeometrie, Schrauber-Ratgeber zu Reifen, Bremsen, Lager, Elektrik, Motoren, Benzinsystem und Zündung sowie Anleitungen zum Arbeiten an der Federung, der Lenkeinheit plus viele Troubleshooter, darunter für Startschwierigkeiten, der Elektrik und dem Fahrwerk. Als Bonus gibt’s einen Verhaltenslehrgang zur Hauptuntersuchung beim TÜV oder einer anderen Stelle. Das war’s im Groben.

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:: wir sind gespannt. was anderes: wir treffen uns im norden der republik, dem landesteil mit eher wenigen für motorradfahrer interessanten strecken. was kann ein flachlandbiker überhaupt zum gesamtthema beitragen?

Nun, zunächst weist auch Schleswig-Holstein viele kurvenreiche, landschaftlich ansprechende Strecken auf. Davon abgesehen ist es ein Schrauberhandbuch, keine Fahranleitung. Gleichwohl die Kapitel über Ergonomie und Fahrwerksgeometrie die Thematik anschneiden. In diesem Sinne kann ein Flachlandbiker recht viel beitragen. Vor allem, dass dir dein Motorrad nicht unterm Hintern zerfällt, während du der Abendsonne entgegenreitest, egal ob auf einem Pass oder einem Deich.

:: späte frage: wer ist gÖrage?

Ich bin gÖrage. Naja, zumindest stecke (und verstecke) ich (mich) dahinter. gÖrage klingt halt sehr viel besser als Uli B, der wo ich im wirklichen Leben bin. Ich habe das Projekt ins Leben gerufen, den Workshop geschrieben, die Websites gestaltet und keine Ahnung, was mehr – hatte und habe aber Unterstützung erfahren. Eine Zeitlang standen Dunio und Lukas mir aktiv zur Seite. Dunio lieferte die Eye-Catcher-Elemente, gute Laune und prima Ideen – ist aber eher der Fahrradmensch und lieber in dieser Richtung engagiert. Lukas wiederum zeichnete Verantwortung für all die Motorradfotos, die etwas taugen (die anderen sind von mir), zog sich zu meinem Bedauern aber nach seinem Wegzug in die Stadt zurück, weil ihm die Zeit fehlt. Wohl auch, weil ich ihn nicht bezahlen kann.

:: du erwähntest im vorfeld die crowdfunding-plattform kickstarter. existiert der plan weiterhin, die buchveröffentlichung über crowdfunding zu finanzieren?

Im Prinzip schon. Der erste Versuch wurde trotz der in Ansätzen erkennbaren Coronakrise in Angriff genommen. Eine Fehlentscheidung, wie sich herausstellte, und eine, die kurzfristig korrigiert wurde. Wir (damals waren wir zu dritt) nahmen das Projekt offline, bevor es unnötig verbrannte, und stellten es zurück. Es war weder möglich, gegenüber einer stark aufmerksamkeitsbindenden Pandemie zu bestehen, noch zu differenzieren, ob die geringe Resonanz in den ersten Tagen nicht am generell geringen Interesse am Buch oder der zu kleinen Zielgruppe lag. Danach handelte ich mir den Virus selbst ein, vermutlich beim Besuch einer Motorradmesse, und wurde langfristig aus dem Verkehr gezogen. Wobei die akute Infektion harmlos verlief, Post-Covid mich aber lange Zeit begleitete. Das Buch wurde in dieser Zeit, erweitert, gekürzt und hier und da aufgemöbelt, ernsthaft an einer erneuten Projektveröffentlichung gearbeitet wird aber bis heute [Ende 2020, der Autor] nicht. Ich denke, für nächstes Jahr stehen die Chancen gut, sie erneut in Angriff zu nehmen. Dann wird wohl auch die Crowdfunding-Aktion wieder auf die Agenda gehievt.

:: letzte Frage: du genderst. warum?

Beim Reden geschieht es weniger bis oftmals überhaupt nicht, aber beim Schreiben versuche ich, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass dieser Planet von zwei Geschlechtern bewohnt wird. Das ist eine Entscheidung aus Vernunft, Höflichkeit und Respekt, gerade im Hinblick auf die steigende Zahl der Neubikerinnen, die die Szene beleben und die das Motorrad als Ausdruck eines selbst bestimmten Lebens sehen. Freiheit lässt sich auf Dauer halt nicht auf den Malboro-Mann reduzieren …

Alle Rechte vorbehalten, © 2021 gÖrage.net.

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Uller, im Netz zu finden auf, naja … uller.de


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